Vom Nationalsozialismus weiß er nichts. Die Geschichte interessiert ihn nicht. Hakenkreuz und Hitlergruß sind beliebige Requisiten. Seine Klamotten-, Musik- und Videokultur ist durch und durch amerikanisch. Die Reichskriegsflagge wird mit Jeans und T-Shirt getragen. Als Skinhead gibt sich der Schläger einen englischen Namen, auf den er stolz ist. Für die Kommunikation innerhalb der Szene sorgen Bands, Compact Discs und Fanzines. »Deutschtum« ist ein Slogan ohne jeden Inhalt, der nur dazu dient, die Leerstellen im Gehirn zu besetzen.
Hans Magnus Enzensberger, der HErr hab ihn selig, schrieb dies 1993 über sein Bild vom deutschen Rechtsradikalismus in seinen Aussichten auf den Bürgerkrieg im seinerzeit unvermeidlichen Suhrkamp-Verlag. Bezogen hatte er das auf die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen Anfang jener merkwürdigen 1990er Jahre. Ursache und Ablauf der Ausschreitungen gestalteten sich keineswegs so klar und eindeutig, wie es die Deutungsmacht unserer hegemonialen Medien längst festgeschrieben hat – abgehakt. Enzensberger, dem wir manch gute Einsicht und Verschlagwortung verdanken – den „molekularen Bürgerkrieg“ zum Beispiel –, legte in seinem Essay damals den Finger auf nicht nur einen wunden Punkt, wenn er auch das herrschende Narrativ unkritisch übernahm.
Der wundeste Punkt: Was genau ist denn für alle, die sich noch als Deutsche fühlen und dieses Deutsche aktiv bewahren wollen, eigentlich das spezifisch Deutsche – oder auch: was soll es sein? Daß sich ein deutsches Volk wie das jüdische Volk oder das der Armenier, der Aseri, die Völker der Sioux und alle anderen durch Abstammung, Sprache und gemeinsame Geschichte definieren, dieser Dreiklang von Johann Gottfried Herder klingt gut, hat bei genauerem Nachdenken aber seine Tücken. Abstammung als das heutzutage politisch am härtesten attackierte Kriterium definiert zunächst einmal schlicht eine Verwandtschaftsbeziehung, die z. B. durch Heirat, Zeugung und Geburt entsteht, dadurch aber eben auch prinzipiell offen bleibt, will man nicht programmatisch reinen Inzest.
Die sich an Herder anschließenden primordialen Ansätze der Ethnologie wie bei Pierre L. van den Berghe (The Ethnic Phenomenon 1981) fassen Ethnien dementsprechend als erweiterte Familienverbände, die sich zu zahlenmäßig größeren Gruppengebilden, nämlich formal organisierten Zusammenschlüssen mit spezifischen Zweck- und Zielorientierungen entwickelten. Formalistische Ansätze wie der von Fredrik Barth (Ethnic Groups and Boundaries 1982) gehen wiederum eher konstruktivistisch vor und behandeln Ethnien als Gruppen, die sich durch Selbst- und Fremdzuschreibungen, also Unterscheidungen und daran orientierten Geschichten sozial konstituieren. De facto widersprechen sich die beiden Ansätze nicht, setzen nur andere Schwerpunkte und konnten daher etwa von Anthony D. Smith zusammengeführt werden (The Ethnic Origins of Nations 1986). Über diesen in den 1980ern entwickelten Stand ist man im Grund, soweit ich das sehe, sachlich nicht hinausgelangt. Auch Versuche, das primordiale Modell durch genetische Untersuchungen zu präferieren, etwa mit Ergebnissen des israelischen MyHeritage-Projekts, führen hier nicht viel weiter.
Anregender sind dagegen für die heutige Lage Überlegungen, die Oswald Spengler schon vor rund 100 Jahren in seinem Untergang des Abendlandes über den Begriff des Volks und dessen zeitgenössische Problematik angestellt hat. Er weist zunächst und zu Recht auf die begriffsgeschichtlichen Untiefen historischer Volkskonzepte hin, führt gar aus, daß Völker ihre Rasse wechseln könnten.
Seine Pointe: Für ihn ist ein Volk objektiv existent und im politischen Sinne bedeutsam nur dann, wenn sich eine historisch gegebene Menschengruppe als „seelische Einheit“ kennzeichnen läßt.
Weder die Einheit der Sprache noch der leiblichen Abstammung ist entscheidend. Was ein Volk von einer Bevölkerung unterscheidet, es aus dieser abhebt und wieder in ihr aufgehen läßt, ist stets das innere Erlebnis des »Wir«. Je tiefer dieses Gefühl, desto stärker ist die Lebenskraft des Verbandes.
Kultur ist ihm dabei nicht Produkt und Äußerungsform eines Volkes, sondern das Volk vielmehr Produkt einer Kultur: „Völker im Banne einer Kultur […] sind in ihrer inneren Form, ihrer ganzen Erscheinung nach nicht Urheber, sondern Werke dieser Kultur.“ Solche Kulturvölker nennt er Nationen, die er von Gebilden vorher (Urvölkern) und nachher (Fellachenidealen & -völkern) unterscheidet:
Es ist nicht nur ein starkes Gefühl des »Wir«, das diese bedeutsamsten aller großen Verbände innerlich zusammenschließt. Der Nation liegt eine Idee zugrunde.
Solange „ein Volk Nation ist, das Schicksal einer Nation erfüllt, gibt es in ihm eine Minderheit, die im Namen aller seine Geschichte vertritt und vollzieht.“
Über diese – im Schatten des Untergangs geschriebenen – Gedanken kann man nun lächeln und sie abtun, man kann sie kritisieren und ablehnen; darüber nachdenken aber sollte man, so einen das Thema der Völker in unserer Gegenwart noch interessiert. Gibt es heute denn eine Idee, eine Kultur (wie die „faustische“ bei Spengler), die den historisch übriggebliebenen Haufen der sogenannten Deutschen als Nation fundiert? Eine Minderheit, die ihre Geschichte vertritt und vollzieht? Sind wir Deutschen überhaupt noch ein Volk im Sinne eines starken Gefühls des „Wir“, einer „seelischen Einheit“? Sollten wir indes schon bei den „Fellachenidealen“ der Massengesellschaft angelangt sein – wer wären dann die neuen Heerkönige, die über die bewußtseinslosen Massen verfügten? Wo ließe sich eine neue (nachfaustische) Kultur aufspüren, was könnte die neue Idee sein, aus denen heraus sich ein Volk formt und zur Nation bildet? Ich habe derzeit selbst keine Antwort auf diese Fragen. Jedenfalls leuchtet mir ein:
Das praktische Ergebnis weltverbessernder Theorien ist regelmäßig eine formlose und deshalb geschichtslose Masse. Alle Weltverbesserer und Weltbürger vertreten Fellachenideale, ob sie es wissen oder nicht. Ihr Erfolg bedeutet die Abdankung der Nation innerhalb der Geschichte, nicht zugunsten des ewigen Friedens, sondern zugunsten anderer. Der Weltfriede ist jedesmal ein einseitiger Entschluß. Die Pax Romana hat für die späteren Soldatenkaiser und germanischen Heerkönige nur die eine praktische Bedeutung: eine formlose Bevölkerung von hundert Millionen zum Objekt des Machtwillens kleiner Kriegerschwärme zu machen. Dieser Friede kostete die Friedlichen Opfer, gegen welche die der Schlacht von Cannä verschwinden.